Der Pygmalioneffekt der Lehrergenerationen

Durch die Rekonstruktion der Wahrnehmungs- und Argumentationsmuster der Lehrer mehr als eines Jahrhunderts (1884-1993) ist die Bedeutung der langfristigen Schwankungen auf der Ebene der geistigen Strömungen ("Pygmalioneffekt der Lehrergenerationen") erkannt worden, die mit den Wellen des Bildungswachstums in spezifischer Art und Weise korrespondieren. Die Begabungsvorstellungen der Lehrer von Volks- und höheren Schulen lassen beispielsweise ein derartiges Schwingungsmuster deutlich erkennen.


Mit Hilfe einer systematischen Inhaltsanalyse von 2.370 Artikeln der Lehrerverbandspresse für den Zeitraum 1884 bis 1993 konnte festgestellt werden, dass Lehrer an höheren Schulen und Volksschullehrer generationsspezifische Diskurse zur Bildungsselektion führen. Mit den langen Wellen des Bildungswachstums wandeln sich die pädagogischen Problemstellungen und damit mehrheitlich die (Vor-)Einstellungen der Lehrergenerationen über die Schülerauslese in spezifischer Art und Weise. Die Deutungsmuster der Generationen verändern sich in der ständigen Auseinandersetzung mit der Umwelt in einem ähnlichen Modus wie bei Einzelpersonen.
Als „Generation“ wird eine Alterskohorte, eine etwa gleichaltrige Gruppe bezeichnet, die in einer bestimmten Zeit gemeinsame Erfahrungen macht und gemeinsame Einstellungen entwickelt.
Als „Pygmalioneffekt“ werden individuelle Voreinstellungen der Lehrer begriffen, die auf die Beurteilungen und entsprechende Selektion bzw. auf Selbstbeurteilungen und Selbstselektion der SchülerInnen übertragen werden.
Der in der Untersuchung festgestellte Effekt, die mit dem Wandel der Bildungsselektionsentwicklung spezifisch wechselnden kollektiven Selektionslegitimationen, kann somit als ein „historischer Pygmalioneffekt der Lehrergenerationen“ bezeichnet werden: Der konjunkturell bestimmte Legitimationswandel wird aber von den Lehrern meist mit Hilfe anthropologischer Grundkonstanten als entweder „realistische“ oder „hoffnungsvolle“ Eigenkonstruktion wahrgenommen. Ein derartiger Wandel von pädagogischen Einstellungs- und Handlungsmustern muss als eine Bedingung von Fremdzuschreibungsmustern für SchülerInnen angesehen werden, die wiederum zu Selbstattribuierungen von Erfolg oder Misserfolg bei den Schülergenerationen führen. Hier schließt sich der Kreis: Selbstzuschreibungen von SchülerInnen sind entscheidende Leistungsbedingungen und damit Grundlagen für die Selbstselektion. Kollektive Fremd- und Selbstselektionen aber führten und führen zu den Bewegungen der Bildungsentscheidungen, der Selektionsentwicklung im Schulsystem, welche wiederum das Selektionsklima und den Selektionswandel beeinflussen.
Als eine typische Sequenz des Diskurswandels kann beispielsweise die Veränderung der Selektionsbegründungen einer „Wachstumsgeneration“ gelten. Der Generationswechsel während des Höhepunkts einer Wachstumswelle bringt eine Lehrergeneration in die Schulen, welche die Öffnung der Bildungsselektion mit euphorischen Reformideen begleitet. Am Ende der Wachstumswelle ist diese Lehrergeneration enttäuscht, da die hochfliegenden Reformideen vom Beginn ihres Berufslebens nicht mit den tatsächlichen Entwicklungen im Schulsystem übereinstimmen. Diese Vermischung der Reflexionsebene mit der Leistungsebene des Bildungssystems führt am Ende von Wachstumsphasen und zu Beginn von Stagnationsphasen zu den typischen, kulturpessimistischen Einstellungsmustern.

 

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